25. Februar 2014

Die Vollmondnacht - von Zebramanguste


„Wenn süss das Mondlicht auf den Hügeln ruht“ tönt dezent aus den Lautsprecherboxen des Radiogerätes. Leise summt sie die liebliche Filmmelodie von James Last mit und reibt mit verträumtem Blick ins Leere ein Glas nach dem andern mit einem bunten Geschirrtuch trocken.
Die Gäste, die bis vor kurzem am Tisch sassen, haben sich verabschiedet.
Jetzt greift sie zum letzten noch verbliebenen Rotweinkelch und beginnt ihn innen trocken zu reiben. Plötzlich zerbricht das Glas unter dem Druck der reibenden Bewegung und zerfällt in unzählig viele Teile. Erschrocken versucht sie die Hand zurückzuziehen und verletzt sich dabei an der Hand. Die Schnittwunde blutet sofort stark. Blut tropft auf den Küchenboden. Sie sieht sich um, sucht nach einem weiteren Tuch. ‚Ich darf jetzt nicht zusammenbrechen - ...aber ich kann doch kein Blut sehen; schon gar nicht das eigene!’ – Sie stürmt ins Badezimmer, wo sich der Spray befindet, der blutende Wunden rasch stillen soll. Die Wunde mit dem Geschirrtuch umwickelt, fischt sie das Blutstillmittel mit der unverletzten Hand aus dem Schränkchen über dem Lavabo, kickt den Deckel weg, wirft das Geschirrhandtuch auf den Badezimmerboden und sprayt die halbe Dose auf die klaffende Wunde. ‚Los, hör’ endlich auf zu bluten, ich kann es nicht mehr sehen, werde nächstens ohnmächtig!’ – Sie sieht in den Spiegel, erblickt ihr eigenes, bleiches Gesicht und erschrickt über die zwei panischen Augen. Sie wickelt das Handtuch aus dem Badezimmer um Wunde. ‚Was soll ich nur tun? Die Wunde hört nicht auf zu bluten. Ob es an der Vollmondnacht liegt, dass die Wunde so kräftig blutet und sich der Blutfluss nicht stoppen lässt? Oder hat das zerbrochene Glas eine Vene im Handgelenk verletzt? Gibt es überhaupt blutführende Venen in den Händen? Wenn ja, muss ich die Hand abbinden um den Blutfluss zu stoppen und um zu verhindern, dass ich verblute?’ – Sie greift sich mit der unverletzten Hand verzweifelt in die Haare und versucht sich zu beruhigen, einen klaren Gedanken zu fassen. ‚Warum hört es nicht auf zu bluten? Was kann ich tun, damit das Blut aufhört das Tuch durchzuweichen und den Fussboden zu verschmutzen?’ Verzweifelt blickt sie auf die umwickelte, verletzte Hand, dann in den Spiegel und sieht dort ihr Gesicht mit den unnatürlich grossen Augen in dunklen Augenhöhlen. ‚Bin ich schon am verbluten, werde ich den nächsten Morgen nicht mehr erleben? - Es muss etwas geschehen!!’ Sie stürmt ins Wohnzimmer greift zum Telefonhörer und wählt die Nummer der Notrufzentrale, wo bereits nach dem dritten Summton abgehoben wird. Sie beschreibt, was in den letzten Minuten (oder waren es Stunden?) passiert ist, was sie unternommen hat und erklärt, dass sie mit den beschriebenen Mitteln bisher nicht verhindern konnte, dass die Wunde weiter blutet. Die Stimme am andern Ende der Leitung stellt gezielt ein paar Fragen. Unter anderem wird sie gefragt, ob sie alleine ist, ihr Niemand beistehen könne. Schliesslich wird sie nach der genauen Adresse gefragt, wie sie sich fühle, ob sie Schwindelgefühle verspüre, ob sie sich irgendwo hinlegen könne und ob sie den Rettungsleuten die Türe öffnen könne oder diese unverschlossen sei. Sie gibt sich Mühe die ihr gestellten Fragen konzentriert zu beantworten, spürt aber, dass sie rasch müder wird, sich nur noch hinlegen und schlafen möchte.
Der nahende Schwächeanfall entgeht auch der Person am andern Ende der Telefonleitung nicht und sie verwickelt die Frau in ein Gespräch, will sie unter allen Umständen wachhalten  während dem sie gleichzeitig den Einsatz eines Rettungsfahrzeuges organisiert.


Es vergehen keine zehn Minuten bis sich der Rettungswagen mit lautem Martinshorn schnell nähert und das blaukreisende Licht das Zimmer gespenstisch beleuchtet. Die Tür wird von aussen aufgestossen, orange-gekleidete Sanitäter betreten die Wohnung und haben die Frau nach kurzem Suchen auf dem Fussboden kauernd gefunden. Sie hat den Telefonhörer zwischen Schulter und Kopf geklemmt und spricht mit schleppender Stimme mehr neben als ins Mikrofon. Die Rettungsmannschaft handelt rasch und routiniert, ein Mann nimmt der Frau den Hörer aus der Hand, spricht kurz in die Telefonmuschel und legt schliesslich den Hörer auf die Ladestation. Schnell wird die noch immer blutende Wunde untersucht, fragende Blicke werden ausgetauscht. Die Frau wird kurzentschlossen hingelegt, die Wunde versorgt und am Handgelenk wird ein Druckverband angelegt. Aus dem Rettungswagen wird eine Rettungstrage geholt, ins Haus gebracht und die Frau mit kurzen Kommandos angehoben und darauf gebettet. Leise erkundigt sich der eine Rettungsmann, ob noch Kinder, Haustiere oder gebrechliche Menschen zu versorgen sind. Geschwächt schüttelt die Frau langsam den Kopf und schliesst erschöpft die Augen. Die Sanitäter laufen in alle Zimmer, löschen überall die noch brennenden Lichter und unterbrechen den „Moonriver“, der leise aus dem Radiogerät ertönt. Sie packen die Trage an je am Kopf- und Fussende und bringen die Frau aus dem Haus zum Rettungswagen. Dort schieben sie die Trage ins Wageninnere und sichern sie. Rasch werden der Frau Infusionen gelegt. Der Fahrer begibt sich hinter das Lenkrad und fährt rasch los – ohne Martinshorn, aber mit kreisendem Blaulicht.
Das Fahrzeug gewinnt rasch an Geschwindigkeit und fährt den Dorfkern hinunter, durch eine kurze Allee und schliesslich durch eine Wiesenlandschaft Richtung Krankenhaus.
Am Himmelszelt steht ein blasser aber voller Mond. Sein Licht überzieht die leicht feuchten Grashalme mit silberigem Glanz. Leise und geschwächt, summt sie „Wenn süss das Mondlicht auf den Hügeln ruht“.    

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