„Wenn süss das Mondlicht auf den Hügeln ruht“
tönt dezent aus den Lautsprecherboxen des Radiogerätes. Leise summt sie die
liebliche Filmmelodie von James Last mit und reibt mit verträumtem Blick ins
Leere ein Glas nach dem andern mit einem bunten Geschirrtuch trocken.
Die Gäste, die bis vor kurzem am Tisch
sassen, haben sich verabschiedet.
Jetzt greift sie zum letzten noch
verbliebenen Rotweinkelch und beginnt ihn innen trocken zu reiben. Plötzlich
zerbricht das Glas unter dem Druck der reibenden Bewegung und zerfällt in
unzählig viele Teile. Erschrocken versucht sie die Hand zurückzuziehen und
verletzt sich dabei an der Hand. Die Schnittwunde blutet sofort stark. Blut
tropft auf den Küchenboden. Sie sieht sich um, sucht nach einem weiteren Tuch.
‚Ich darf jetzt nicht zusammenbrechen - ...aber ich kann doch kein Blut sehen;
schon gar nicht das eigene!’ – Sie stürmt ins Badezimmer, wo sich der Spray
befindet, der blutende Wunden rasch stillen soll. Die Wunde mit dem
Geschirrtuch umwickelt, fischt sie das Blutstillmittel mit der unverletzten
Hand aus dem Schränkchen über dem Lavabo, kickt den Deckel weg, wirft das
Geschirrhandtuch auf den Badezimmerboden und sprayt die halbe Dose auf die
klaffende Wunde. ‚Los, hör’ endlich auf zu bluten, ich kann es nicht mehr
sehen, werde nächstens ohnmächtig!’ – Sie sieht in den Spiegel, erblickt ihr
eigenes, bleiches Gesicht und erschrickt über die zwei panischen Augen. Sie wickelt
das Handtuch aus dem Badezimmer um Wunde. ‚Was soll ich nur tun? Die Wunde hört
nicht auf zu bluten. Ob es an der Vollmondnacht liegt, dass die Wunde so
kräftig blutet und sich der Blutfluss nicht stoppen lässt? Oder hat das
zerbrochene Glas eine Vene im Handgelenk verletzt? Gibt es überhaupt
blutführende Venen in den Händen? Wenn ja, muss ich die Hand abbinden um den
Blutfluss zu stoppen und um zu verhindern, dass ich verblute?’ – Sie greift
sich mit der unverletzten Hand verzweifelt in die Haare und versucht sich zu
beruhigen, einen klaren Gedanken zu fassen. ‚Warum hört es nicht auf zu bluten?
Was kann ich tun, damit das Blut aufhört das Tuch durchzuweichen und den
Fussboden zu verschmutzen?’ Verzweifelt blickt sie auf die umwickelte,
verletzte Hand, dann in den Spiegel und sieht dort ihr Gesicht mit den
unnatürlich grossen Augen in dunklen Augenhöhlen. ‚Bin ich schon am verbluten,
werde ich den nächsten Morgen nicht mehr erleben? - Es muss etwas geschehen!!’
Sie stürmt ins Wohnzimmer greift zum Telefonhörer und wählt die Nummer der
Notrufzentrale, wo bereits nach dem dritten Summton abgehoben wird. Sie
beschreibt, was in den letzten Minuten (oder waren es Stunden?) passiert ist,
was sie unternommen hat und erklärt, dass sie mit den beschriebenen Mitteln
bisher nicht verhindern konnte, dass die Wunde weiter blutet. Die Stimme am
andern Ende der Leitung stellt gezielt ein paar Fragen. Unter anderem wird sie
gefragt, ob sie alleine ist, ihr Niemand beistehen könne. Schliesslich wird sie
nach der genauen Adresse gefragt, wie sie sich fühle, ob sie Schwindelgefühle
verspüre, ob sie sich irgendwo hinlegen könne und ob sie den Rettungsleuten die
Türe öffnen könne oder diese unverschlossen sei. Sie gibt sich Mühe die ihr
gestellten Fragen konzentriert zu beantworten, spürt aber, dass sie rasch müder
wird, sich nur noch hinlegen und schlafen möchte.
Der nahende
Schwächeanfall entgeht auch der Person am andern Ende der Telefonleitung nicht
und sie verwickelt die Frau in ein Gespräch, will sie unter allen Umständen wachhalten
während dem sie gleichzeitig den Einsatz
eines Rettungsfahrzeuges organisiert.
Es vergehen keine zehn Minuten bis sich der
Rettungswagen mit lautem Martinshorn schnell nähert und das blaukreisende Licht
das Zimmer gespenstisch beleuchtet. Die Tür wird von aussen aufgestossen,
orange-gekleidete Sanitäter betreten die Wohnung und haben die Frau nach kurzem
Suchen auf dem Fussboden kauernd gefunden. Sie hat den Telefonhörer zwischen
Schulter und Kopf geklemmt und spricht mit schleppender Stimme mehr neben als
ins Mikrofon. Die Rettungsmannschaft handelt rasch und routiniert, ein Mann
nimmt der Frau den Hörer aus der Hand, spricht kurz in die Telefonmuschel und
legt schliesslich den Hörer auf die Ladestation. Schnell wird die noch immer
blutende Wunde untersucht, fragende Blicke werden ausgetauscht. Die Frau wird
kurzentschlossen hingelegt, die Wunde versorgt und am Handgelenk wird ein
Druckverband angelegt. Aus dem Rettungswagen wird eine Rettungstrage geholt,
ins Haus gebracht und die Frau mit kurzen Kommandos angehoben und darauf
gebettet. Leise erkundigt sich der eine Rettungsmann, ob noch Kinder, Haustiere
oder gebrechliche Menschen zu versorgen sind. Geschwächt schüttelt die Frau
langsam den Kopf und schliesst erschöpft die Augen. Die Sanitäter laufen in
alle Zimmer, löschen überall die noch brennenden Lichter und unterbrechen den
„Moonriver“, der leise aus dem Radiogerät ertönt. Sie packen die Trage an je am
Kopf- und Fussende und bringen die Frau aus dem Haus zum Rettungswagen. Dort
schieben sie die Trage ins Wageninnere und sichern sie. Rasch werden der Frau
Infusionen gelegt. Der Fahrer begibt sich hinter das Lenkrad und fährt rasch
los – ohne Martinshorn, aber mit kreisendem Blaulicht.
Das Fahrzeug gewinnt rasch an Geschwindigkeit
und fährt den Dorfkern hinunter, durch eine kurze Allee und schliesslich durch eine
Wiesenlandschaft Richtung Krankenhaus.
Am Himmelszelt steht ein blasser aber voller Mond.
Sein Licht überzieht die leicht feuchten Grashalme mit silberigem Glanz. Leise
und geschwächt, summt sie „Wenn süss das Mondlicht auf den Hügeln ruht“. Weitere Infos zu den Geschichten /