Der düstere und karge Hausflur nahm ihn in Empfang, von wo ihn der Aufzug in den 2. Stock brachte. Ein mal die Klingel gedrückt stand er im Empfangsbereich und wurde von einer jungen Frau ins Wartezimmer gewiesen. "Schweizer Illustrierte", "Nebelspalter" oder "Frau mit Herz" lagen auf, um die Wartezeit zu verkürzen oder die Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Draussen war durch das leicht geöffnete Fenster von weit her ein Presslufthammer zu vernehmen, welcher sich bohrend und dröhnend mit den menschlichen Stimmen von der Gasse unten zu einem Geräuschbrei vermischte.
Es musste wohl doch mehrere Minuten gedauert haben bis er endlich in Zimmer 2 begleitet wurde, wo auch sogleich wortreich mit der üblichen Prozedur "Bitte setzen Sie sich - Herr Bauer", "Achtung - ich streife Ihnen jetzt den Latz über", "Ich werde nun noch frisches Spülwasser auffüllen", "der Herr Doktor wird bald bei Ihnen sein" begonnen wurde.
Der Herr Doktor kannte wohl das Wort "bald" nicht so genau und so hatte Bauer genügend Zeit mit der rechten Hand nochmals nach der herausgefallenen Plombe in der Hemdtasche zu tasten und sich seinen weiteren - der kommenden Prozedur vorbereitenden - Gedanken zu widmen. Ganz alleine in einem Raum, in dem zu sein er sich normalerweise absolut nicht wünschte.
Und plötzlich war es da, dieses surrende, pfeiffende, sirrende Geräusch des Bohrers, welches aussen wohl ganz anders vernommen wurde als innen. Die Spritze war wohl gut gesetzt worden - kein wirklicher Schmerz war zu verspüren ausser dieses Gefühl der absoluten Abhängigkeit und Hilflosigkeit und dieser saugende Schlauch, der geräuschvoll seine Arbeit tat und sich immer wieder zwischen Zahnreihen, Zunge und Backeninnenwand verklemmte, was dann jeweils in einem verzweifelten unanständig töndenden Sauggeräusch und Gurgeln endete.
Lass die Hände ruhig, zapple nicht mit den Füssen, atme ruhig waren die inneren Befehle, die er sich selber immer und immer wieder gab und mit innerer Stimme vormurmelte. Und dann noch diese Angst, dass die Unterlippe plötzlich wieder so unkontrolliert vor sich hin zu zittern begann. Wer macht schon im Vorfeld Unterlippen-Dehnübungen und Mund-weit-aufreissen-Training ? Keiner ! Bleib einfach ruhig ! Du kennst das ja. Ist doch schon immer irgendwie gut gelaufen.
Ruhig war anders - durchzuckte es ihn, während ihn der Herr Doktor mit leiser bestimmter Stimme aufforderte, den Mund noch weiter aufzusperren und den Kopf ganz leicht nach links zu drehen. "So ist es gut" kam auch prompt das Lob, welches er wie ein kleines Kind in sich aufsog und entsprechend dankbar entgegen nahm.
Denk an etwas schönes, denk einfach an etwas ganz ganz schönes. Nichts - nur Leere. Jetzt tu nicht so, als hättest Du noch nie im Leben was schönes erlebt. Immer noch Leere. Strategiewechsel. Denk an Musik. Lass sie erklingen in deinem inneren Ohr. Lass dich wegtragen ins Land der Lieder, Instrumente und Melodien.
Er hatte es geschafft und war nun - nur für ganz kurze Momente zwar - im Land der Musik angelangt. Rammsteins harte Gitarrenriffs und das hämmernde Schlagzeug in "Haifisch" und "Mein Teil" und die schmerzverzerrten Gestalten aus dem Musikvideo blitzten auf und dröhnten irgendwo im Innenohr und tanzten vor seinem geistigen Auge, sollte es dieses denn auch tatsächlich geben. Warum Du, warum bist Du - dieser Song - jetzt ausgerechnet hier bei mir im Behandlungszimmer. Weg damit, das passt nicht. Geh weg. Nach zwei, drei mal wegblinzeln kam dann die Erlösung in Form des luftig fröhlichen Liedchens "Hoch auf dem gelben Wagen". Ein netter Roy Black, hübsche junge Damen und zwei motiviert trabende Pferdchen, welche durch eine Landschaft fein duftender Wiesen und Wälder führten, als es noch kein Baum- und Bienensterben gab oder es zumindest keiner zur Kenntnis nehmen wollte.
"Spülen bitte" - "Bitte ganz gut spülen Herr Bauer" - "Geht's" ?
Dieses zuletzt ausgesprochene "Geht's", begleitet von einem Schmunzeln von Arzt und Assistentin gaben ihm die finale Sicherheit: Die haben dich durchschaut, die haben's mitgekriegt, das mit dieser Musik.
Strategiewechsel. Denk an etwas ganz normales, etwas ganz banal normales.
Outlook, Agenda,Termine !
Ich bin sicher wieder zu schlecht vorbereitet für dieses Kickoff der Sonder-Arbeitsgruppe "TaskForce". Was soll's - schlechter als die andern wird's alleweil nicht sein. Und dann diese neue Terminserie des Projekts ALOA, welches in kürstester Zeit aus dem Boden gestampft wurde und keiner so richtig wusste, wohin die Reise führen soll .... und dann noch das Team-Meeting, in welchem Team sicher wieder einmal mehr beweisen wollte, dass Team Team ist und dass dieses "One-team-one-voice-Gefühl" über alles und auch über Projekt- und Einzelinteressen zu stellen ist und ....
"Herr Bauer" ..... "Herr Bauer !!" "Haben Sie vielleicht Ihre Agenda dabei ? Der Herr Doktor meint, wir sollten unbedingt noch einen weiteren Termin vereinbaren".
neu: 10.2.2019 - die in Dialekt (Bärndütsch) übersetzte Version - d'Plombe
Soundtrack zur Kurzgeschichte:
Rammstein-Haifisch: https://www.youtube.com/watch?v=GukNjYQZW8s
Rammstein-Mein Teil: https://www.youtube.com/watch?v=PBvwcH4XX6U
Hoch auf dem gelben Wagen: http://www.youtube.com/watch?v=N6EwGA4KD8s
Index - Geschichtenverzeichnis - zu den AutorInnen: http://m3wg.blogspot.ch/2012/12/idee-konzept.html
Kurzgeschichten - m3wg Blog (maximal 3 Wort Geschichten) - Verschiedene AutorInnen schreiben jeweils einen Beitrag zu einer Titelvorgabe, welche zwischen maximal 1 - 3 Worte umfasst. Es gibt keine weiteren Vorgaben zu Inhalt, Art, Form oder Länge der Kurzgeschichte. Die AutorInnen sind völlig frei. In unregelmässigen Abständen wird eine neue Kurzgeschichten-Serie zu einem Thema publiziert.
23. Juni 2013
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