Die Reise - von Knurrbär
Mach doch mal eine Reise hatte Jean-Pierre zu ihm gesagt. Zum Abschied
nach einem Nachtessen und ein paar Bier. Kurz bevor sich die Türe des
Autobusses schloss und er sich einen freien Sitzplatz suchte.
Es musste schon sehr lange her sein, die letzte Reise, an die er sich er
sich erinnern konnte. Damals noch mit Eveline und den drei Kindern. Die Reise
nach Ungarn und Österreich.
Und jetzt ? Frau ganz weg. Kinder auch weg, wenn auch nicht ganz. Aber
immer mehr und immer öfter. Kein Hund mehr, keine Katze mehr. Kleine
Zweizimmerwohnung im siebten Stock, Fernseher, 3 Pfannen und Geschirr für 4
Personen, ein eBike und noch 8 Jahre bis zur Pensionierung.
Eine Reise. Mach doch eine Reise. Diese Worte. Die Gedanken
drehten und liessen nicht los. Sie liessen sich nicht so einfach verscheuchen.
Hochzeitsreise, Schulreise, Traumreise, Gedankenreise,
Ferienreise, Kreuzfahrtreise, Kreuzzugreise, Pilgerreise, Kulturreise,
Ballermannreise, Alternative Reise, Luxusreise, All-inclusice-Reise,
Geschäftsreise, Jungfernreise – zumindest bei Schiffen, Gullivers Reise oder
die endlose Reise und dann halt auch irgendeinmal für jede und jeden -
die letzte Reise. Reisen mit einem Anfang und einem geplanten Ende und
Reisen mit nur einem geplanten Anfang und offenen Ausgang. Und dann die Reisen
mit dem letzten ultimativen Ende, Verfall- oder Ablaufdatum. Punkt. Fertig.
Hab ich überhaupt noch einen Koffer? Und der Pass, ist der überhaupt
noch gültig? Wer reisen will braucht Koffer und Ausweispapiere. Bargeld oder
besser auch noch eine Kreditkarte. Ein Fotoapparat wäre auch ganz gut. Danach
alles nochmal ganz gemütlich anschauen, sortieren oder löschen. Es ist gut,
gewisse Dinge zu löschen. Auch Erinnerungen und auch Fotos. Einfach weg. Klick
und dann bei „Sind sie sicher ?“ einfach ja.
Soll es wieder Ungarn und Österreich sein ? Hat sich sicher vieles massiv
verändert dort. Alles nochmals aufwärmen, was damals war und was immer noch
tief in der Seele drin nagt. Oder was ganz anderes, neues. Sonne, Meer, Strand,
Dünen in einem Hotel mit Balkon und Sicht zum Wasser und nochmals Sonne. Eine
Reise mit Flugzeug und langen schönen Wanderungen am Meer entlang.
Oder eine Reise zu den Indianern nach Amerika. Unterwegs auf endlosen
staubigen Strassen vorbei an Kaktussen und kantigen einprägsamen Felskulissen,
welche wir alle aus den wunderschönen Western kennen. Bis am Horizont Las Vegas
auftaucht und dich wohlig in farbige Neon- und Lügenwelten einhüllt.
Die Bustüre öffnet sich. Ein kühler Wind empfängt und regt zu raschem
Schritt an.
Es tut gut, die weiche Matratze zu spüren. Es tut gut, dem eigenen
tiefen Atem zuzuhören. Das hilft. Das hat schon oft geholfen. Mein Schnarchen
stört keinen und an das leise Ticken des Zeigers im Wecker hab ich mich
gewöhnt. Wir haben eine ganz gute Beziehung, mein Wecker und ich. Jedenfalls
bis am Morgen früh.
Der Morgen war wie jeder Morgen. Wecker, Kaffee, Müesli, Douche, die
Siebmienuhrnachrichten und zu viele verschiedene Parfumwolken im Bus. Und
dennoch war dieser Morgen ein anderer als die üblichen. Er nahm sich ein paar
Minuten mehr Zeit, mehr Zeit als sonst.
Es gibt Personen, die reisen hierher - zu uns. Und es gibt Menschen, die
reisen weg von hier. Ungleich viele in die eine wie in die andere Richtung.
Wenigstens ungleich lang in der geplanten oder ungeplanten Dauer. Andere
Motivation, andere geplante oder ungeplante Zeitdauer eben halt. Reisende sind
nicht immer nur “Gutmenschen”. Weder die einen noch die andern. Reisende sind
immer auch ein bisschen bei sich selbst in einer andern Welt. Die einen wie die
andern. Ich will ich sein, ich will bei mir sein ! Ich will merken, ob ich da,
wo andere hin wollen noch immer hingehöre und da wo andere wegwollen noch immer
nicht hingehöre. Ich will herausfinden, was meine Nachbarn oder Nachbarn der
Nachbarn denken und fühlen. Ich will spüren, was meine Freunde oder Freunde der
Freunde denken und fühlen. Ich will merken, ob mein lieber Gott der liebe Gott
ist, den ich wirklich mag oder nicht und ob ich das wirklich auch merke und in
Konsequenz tue. Und ich will herausfinden, was das mit mir zu tun hat und wie
ich mich dabei fühle. Und erst dann will ich mich entscheiden, ob ich reisen
will und wohin ich reisen will oder was mir an Reisenden in unserem Land
gefällt oder halt auch einfach missfällt oder manchmal oder oft nervt oder mich
verunsichert, dahingehend, dass ich meine, unser Land ist unser Land und das
Land anderer ist ihr Land und dass wir das einfach nie vergessen sollten, weil
wir sonst uns selber und unsere Wurzeln und unsere Heimat vergessen. Mögen sie
alle von Globalisierung oder Sozialisierung träumen und erzählen. Sie haben am
Ende doch nur eines im Sinn: dass wir alle dieselben Güter einkaufen und
dieselben Glücksgefühle dabei entwickeln und dabei meinen, wir seien
Individuen. Oder vielleicht wollen sie gar, dass wir uns uns eben nicht
verstehen und mögen. Dann gibt es daraus in der Konsequenz andere Güter,
welches ich in der Folge produzieren und verwenden lassen und von deren Folgen
wir dann in den Nachrichten empört oder einvernehmend Kenntnis nehmen können. Und
da blieb die Frage im Raum stecken: müssen mich denn alle mögen, zu denen ich
reise und muss ich alle mögen, die zu mir reisen ?
An dieser Stelle legt
der Autor den Stift zur Seite. Die Geschichte scheint ihm zu entgleiten. Die
Hauptfigur entwickelt eine kaum mehr zu kontrollierende Eigendynamik.
https://www.youtube.com/watch?v=CPpUc1roxfY Rammstein Clip Reise Reise twin towers
Es
gibt jetzt nur noch eines … Hier kommt die Sonne, eine Reise und die Sonne
https://www.youtube.com/watch?v=hvV5SYMRhlg Rammstein – Sonne
Weitere Infos zu den Geschichten /Index - Geschichtenverzeichnis - zu den AutorInnen:http://m3wg.blogspot.ch/2012/12/idee-konzept.html